31.08.2011: Vier Städte

Wo liegen Manhattan-Bridge und Brooklyn-Bridge in einem 90° Winkel nur eine halbe Elle weit auseinander? Ja, genau da!
Es gibt keine Goethestraße und keine Schloßalle, statt dessen eine 5th Avenue und Ellis Eiland. Badstraße und Turmstraße wurden in Little Italy und Chinatown umbenannt (oder war es umgekehrt?), Häuser und Hotels sind Studios und Brownstones (nach LEO sind das Sandsteinhäuser, im damaligen Amerika offensichtlich etwas Großes). Hübsche kleine Zinnfiguren, Apfel, Auto, Hot Dogs und die Freiheitsstatue darstellend, sind die Pöppel, mit denen wir das Carree umrunden. Es geht nicht um Hunderttausende von Dollars, die kleinste Stückelung hat den Nennwert von einem Dollar. Ganz schön bescheiden. (Oder ist der beherrschte Zahlenraum der heutigen Generation geschrumpft?)
„New York“ heißt diese Ausgabe des wohl bekanntesten Brettspiels unserer Zeit. Meine Tochter sowie der spanische Schwiegerfreund haben sie in unserem Familienurlaub am Balaton auf den Tisch gelegt. Zuerst war ich peinlich überrascht, weil ich ein Geschenk befürchtete, aber dann war es doch nur ein Spielvorschlag. Und schon ging es los.
Bekanntermaßen besteht dieses reine Glücksspiel aus zwei Glücksphasen. In der ersten Phase würfelt man hoffnungsvoll um die Gründstücke, die man erwerben möchte. In der zweiten Phase würfelt man ängstlich um die Gründstücke, auf denen man keine Miete bezahlen möchte; dann bleibt man am liebsten im Gefängnis eingesperrt.
Für ganz kluge Köpfe gibt es zwischen diesen Glücksphasen zuweilen für ein paar Sekunden noch eine Handelsphase, wo man die Münchener Straße gegen den Opernplatz vertauscht und ggf. noch etwas drauflegt. Im Spielkreis meines Schwagers wird die erste, etwas langatmige Phase auf Null reduziert, in dem die vorhandenen Grundstückskarten einfach wie beim Skat verteilt werden. Immerhin geht damit kein Stück Taktik oder Strategie verloren, und man spart sich fast eine ganze Stunde Einschwungzeit.
In unserem Dreierkreis hatte Antonio als erster und einziger einen kompletten Straßenzug erwürfelt: die supergeile Parkstraße und Schloßallee, sprich Central Park und Ellis Eiland. Jetzt hätte er nur noch ein stumpfsinniges Dahindümpeln / Würfeln aussitzen müssen, um spätestens eine Stunde später das Feld als Monopolist zu verlassen. Doch aus Gutmütigkeit, Sportsgeist oder Pietät gegenüber dem Schwiegervater in spe tauschte er zwei Pink-Straßen gegen eine Braun-Orange-Straße (meine Lieblingsgrundstücke, die auf den Feldern 6, 8 und 9 hinter dem Gefängnis). Das war sein Tod. Auf Sabina’s Straßenstrich von Chinatown hauchte er seine letzten Dollars aus, ohne daß jemals auch nur ein einziger Flüchtling auf Ellis Eiland seinen Paß vorgezeigt oder im Central Park gelustwandelt hätte.
Bisher noch keine einzige WPG-Wertung für das Spiel der Spiele! Aus Pietät für die Freunde von Würfelspielen vergibt Walter freundliche 6 Punkte. Das Spiel hat eine vorzügliche Balance. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Wenn ihm hier aber einer mit strategischen Fachsimpeleien ankommt, würde er ihm sofort eine 2-3 um die Ohren knallen. Sabina: 5, Toni: 8.
Die weiteren Nostalgienoten der heutigen Westpark-Gamers: Birgit: 5 (OK, aber kein großer Spielreiz), Günther: 5 (für Spielstunden mit Neffen und Nichten), Horst: 5 (mal sehen, wann Sebastian dafür reif ist).


Um die strategische Herausforderung zu potenzieren, spielte ich hinterher mit dem Schwiegerfreund noch einige Partien eines schriftlichen Frage- und Antwortspiels, bei dem ich die spanischen Zahlen von 1 bis 10 und das spanische Alphabet von A bis Chota vertiefen konnte, und bei dem die Antwort „agua“ eine Enttäuschung, die Antwort „tocado y hundido“ aber das reinste Entzücken hervorrief. Was war das?
1. “Firenze”
Abermals ein großer Wurf von Pegasus. Wir sind mal wieder Bauherrn und bauen Geschlechtertürme (bitte mit nichts zu verwechseln!) in einer Stadt. Für jedes fertiggestellte Stockwerk gibt es Siegpunkte und Sonderprämien; wer am Ende die besten siegpunktträchtigen Etagen gebaut hat, ist Sieger.
Jeder Spielzug eines Spielers besteht aus 4 Phasen:

  • Aus einer Reihe von 6 offenen Aktionskarten die optimalste wählen: Der Auswahlmechanismus ist hier ähnlich wie bei „Small World“: Die vorderste Aktionskarte kostet nichts, für jede weiter hinten liegende Aktionskarte muß man auf jede übersprungene Karte einen Obolus legen. So werden auch weniger attaktive Karten im Laufe der Zeit immer wertvoller, bis sich die Waage schließlich doch noch zu ihren Gunsten neigt.
    Der entscheidende Unterschied zwischen den verschiedenen Aktionskarten liegt allerdings weniger in ihrer Funktion (im wesentlichen Siegpunkt- oder Kosten-Modifier), sondern in der Anzahl und Farbe der Bausteine, die ihnen zugeordnet ist, und die es erlauben, an den verschiedenen Geschlechtertürmen mitzubauen.
  • Steine tauschen: Im Verhältnis 3:1 kann man aktuell überflüssige Steine gegen dringend benötigte Steine umtauschen. Damit werden die Unbilden den Zufalls bei der Bausteine-Verteilung gemildert.
  • Türme bauen: Aus den angesammelten Steinen kann man einen oder mehrere farbige Türme errichten oder an bestehenden Türmen weiterbauen. Hier ist eine hübsche Abwägung eingebaut: Fange ich einen neuen Turm an um ihn peut-a-peut fertig zu stellen, oder spare ich die Bausteine auf, um den Turm später auf einen Streich zu bauen? Angefangene Türme haben den Nachteil, dass ich in der Höhe der Türme weniger flexibel bin. Zudem muss ich in jedem Zug an jedem angefangenen Turm weiterbauen, ansonsten wird er als „Bauruine“ abgerissen. Dafür ist es erheblich billiger, einen Turm in kleineren Teilstücken zu errichten als in einer einzigen großen Bauphase.
  • Aufträge erfüllen: Fertige Türme, die in der Etagenhöhe einem noch ausstehenden Auftrag genau entsprechen, werden abgerechnet und man erhält dafür Siegpunkte.

Das ganze ist spannend (Kriege ich die richtigen Bausteine zusammen? Kann ich einen Etagenturm abrechnen, bevor mir ein Mitspieler den Auftrag wegschnappt?), konstruktiv (schließlich werden Türme gebaut), schnell, durchsichtig (sehr wenige, klare und verständliche Regeln) und taktisch-strategisch („Früher Vogel fängt den Wurm“ gegen „Dem Hahn, der zu früh kräht, dreht man den Hals um.“)
Leider gibt es unter den Aktionskarten auch ein paar Ärgerkarten. Der „Saboteur“ entfernt einen Stein von einem Turm eines beliebige Mitspielers und der „Schmuggler“ tauscht einen eigenen Stein gegen den Stein eines Mitspielers (der damit eine bestimmte Etage gerade nicht mehr fertigstellen kann). Muß das sein? Es gibt in „Firenze“ so viel zu planen, zu überlegen und scharf zu kalkulieren, dass solche Ärgermechanismen schlichtweg kontraproduktiv sind. Birgit und Walter sind aus Prinzip gegen diese parteilichen Chaos-Effekte; Günther könnte noch damit leben; Horst könnte ohne diese Effekte sogar besser leben.
WPG-Wertung: Birgit: 6 (vom Thema nicht umgehauen. Einschränkung wegen der Ärgerkarten), Günther 7 (das Spiel ist rund; das ständige Nachschieben und Füllen der Aktionskarten ist allerdings etwas umständlich), Horst: 7 (das Spiel ist solide, Einschränkungen wegen des gewaltigen Siegpunktrausches am Ende), Walter: 7 (ohne die Ärgerkarten wären es 8 Punkte).
2. “Die Speicherstadt”
Letztes Jahr lag dieses Eggert-Spiel von Stefan Feld dreimal auf dem Spieltisch am Westpark. Da sag’ doch mal einer, wir würden alle Spiele nur einmal spielen und dürften uns daraus noch kein Urteil erlauben!
Heute setzte es sich wegen seiner kurzen Spieldauer (45 Minuten) durch, schließlich sollte Sebastians Babysitter spätestens um 23 Uhr abgelöst werden. Für die Alternative, „Strassbourg“, muss man eher die doppelte Zeit ansetzen.
Der neuartige Postenschachermechanismus, mit dem die Spieler ihre Aktionen auswählen, hat nichts von seinem Reiz verloren, auch wenn lange Gesichter bei den Zu-Kurz-Gekommenen immer mal wieder nicht zu vermeiden sind. Das Geld ist äußerst knapp, und wer sein letztes Geld für einen Auftrag, eine Schiffsladung oder einen Feuerwehrmann ausgegeben hat, ist in der nächsten Runde ausrechenbar, und geht mit hohem Risiko ganz leer aus.
Günther hatte den gesamten Spielablauf von langer Hand geplant und tat in der Schlußwertung einen Sprung von Minus-4 auf Plus-27 Punkte. Unangefochten die Spitze.
WPG-Wertung: Birgit und Horst reihten sich mit 8 Punkten in die Spitzengruppe der bisherigen guten WPG-Werter ein.
Von einem drohenen Bluff-Absacker verschreckt, düste Birgit zum mütterlichen Babysitter davon.
3. “Ysphahan”
Das Spiel lag seit seinem Erscheinen im Jahr 2006 bereits fünf mal bei uns auf dem Tisch. Günther hat schon vor Jahren die PC-Fassung für das Spiel gegen den Computer implementiert; vor kurzem hat er auch noch eine Internet-Version geschaffen, mit der man jetzt online gegen entfernt lebende Mitspieler im Netz spielen kann. Natürlich besitzt er auch am realen Brettspiel die größte strategischen Erfahrung.
Ohne echten Gegenspieler schwelgte er in der Supervisor-Strategie. Er baute als erste Gebäude die Karawanserei und das Badehaus, und schickte anschließend bei fast jedem Zug gleich zwei Pöppel in die Karavane und durfte dafür auch gleich noch zwei Bonuskarten ziehen. Am Ende hatte er Horst und Walter nahezu überrundet.
Walter fuhr zwei Runden lang recht erfolgreich die Basarstrategie. Im Besitz von Lastenaufzug und Markt konnte er in der zweiten Runde die gelben Basare vollständig in Besitz nehmen und allein dafür 28 Siegepunkte kassieren. Doch dann verließen sie ihn. Günther’s Supervisor-Strategie erlaubte sogar noch, den Gegnern jeweils die Würfelgruppe zu entwerten, die ihnen am peinlichsten war.
Horst durchlebte die Verwandlung von Begeisterung in Entgeisterung. Fassungslos konnte er nur zuschauen, wie Günthers Siegpunktkonto sturzbachartig anschwoll. Gewiß, in einer 3er Runde kann „Ysphahan“ durchaus die Balance verlieren. Ein Supervisor allein ist wahrscheinlich unschlagbar, und wenn sich zwei Supervisor streiten, dann freut sich das lachende dritte Kamel. Gibt es dazwischen einen Mittelweg, nämlich dem Supervisor an den Karren zu fahren, ohne dabei die Chancen auf den eigenen Sieg ganz fallen lassen zu müssen?
Doch auch ohne Balance ist Ysphahan ein vielseitiges, schnelles, vorzügliches Spiel.
WPG-Wertung: Horsts 8 Punkte blieben diesmal unterhalb des super-guten WPG-Durchschnittes.

6 Gedanken zu „31.08.2011: Vier Städte“

  1. So, und ich dachte schon, die WPG-Website sei verwaist, seit der Walter Sorger mit Foto im Bridge-Magazin war, weil er sich für das Challenger-Cup-Finale qualifiziert hat.

  2. Nee, tut mir Leid, bin nur Hobbyspieler. Kriege die Hefte immer von einem Vereinsmitglied nach der Lektüre geschenkt und les sie ganz gerne. Vor allem das Expertenquiz, das mich gelegentlich an Euren Blog erinnert, wenn sie sich wieder ordentlich über das einzige richtige Gebot in die Haare kriegen. Sehr vergnüglich!

  3. Zu Firenze:
    Ich mag es auch sehr gerne – ich finde den Ärgerfaktor nicht soo schlimm; meist kann man über das Tauschen dann dennoch den notwendigen Stein bekommen. Aber: Ohne den Ärgerfaktor, also Karten, mit denen man einen Spieler beeinflussen kann, könnte dieser Spieler einfach “davonlaufen”; ich habe praktisch keine Möglichkeit, eine Siegesstrasse zu verhindern.
    Aber schliesslich kann man auch einfach die Karten, die einem nicht gefallen, aus dem Kartenstapel herausnehmen, ohne dass man das Spiel anderweitig beeinflusst. Das ist natürlich sehr schön…

  4. Zu Florian (komme gerade von einem Kurztrip zurück, deshalb erst so spät): Ja, es war Schiffe versenken.

    Zu Tom: Wenn es Ärgerkarten braucht, um das Davonlaufen eines Spielers zu verhindern, dann ist das Spiel nicht ausbalanciert. Und das ist für mich schlichtweg eine Designschwäche, wenn nicht gar ein grober Designfehler!

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