21.12.2011: Zweimal Karten sammeln und auslegen

Kinder, solange sie nicht im Sinne einer Erziehung ver-zogen sind, beherrschen die zwei wichtigsten Lebensregeln perfekt:

  • Sei authentisch!
  • Sei ganz bei einer Sache und tu nicht zwei Dinge gleichzeitig!

Das heißt, sie folgen ihrer Energie spontan und augenblicklich. Wenn sie schreien, schreien sie total. Wenn sie sehen, sehen sie total. Wenn sie spielen, gehen sie vollkommen in ihrem Spiel auf. Daher sind sie unsere Lehrer. Sie beherrschen die Kunst einen erfüllten Augenblick an den anderen zu reihen.
(Irina Rauthmann)

1. “Tournay”
Ein Kartenspiel des belgischen Trios Dujardin – Georges – Orban, erschienen im belgischen Pearl Games Verlag. Jeder Spieler sammelt „Aktivitätskarten“ – 90 verschiedene kennt das Basisspiel – und legt sie in einer 3 x 3 Auslage offen vor sich aus. Welche Karten einem Spieler angeboten werden, hängt zum einen vom Zufall ab, denn die Karten müssen von verschiedenen Stapeln verdeckt gezogen werden, zum anderen davon, welche Karten ein Vorgänger-Spieler nicht gemocht und dewegen offen abgelegt hat.

Das Auslegen kostet Geld und Aktionspunkte. Mit diesen Ressourcen muß ein Spieler haushalten. Die Reihenfolge und Positionierung der Karten in der Auslage hingegen bringt Geld, Aktionspunkte, Vergünstigungen und Siegpunkte. Eine geschickte Auswahl aus dem teil-zufälligen Kartenangebot sowie ein kompetentes-glückliches-systematisches Vorgehen beim Ausbau der Ressourcen- und Siegpunktquellen sind hilfreich für den Sieg.
Leider spielt sich das Spiel nicht so flüssig, wie sich das hier (vielleicht) liest. Wir können nicht in einem Atemzug Karten erwerben und auslegen; sondern müssen gemäß der vorgeschriebenen Zureihenfolge erst eine Karte auslegen bevor wir die nächste Karte in die Hand bekommen. Da geht ein Zug verloren. Und wenn wir gerade mal kein Geld haben, müssen wir wiederum auf (konstruktive) Züge verzichten und unsere Aktionspunkte für den Gelderwerb verplempern. Klare Schlußfolgerung: „Never use the last Drachma!“. Die andere Schlußfolgerung: „Spiele nie die letzte Karte aus der Hand!“ läßt sich leider nicht verwirklichen. Denn der Möglichkeiten, Karten zu erwerben, sind wenige, Karten auszulegen aber viele. „Több nap, mint kolbász“ heißt ein entsprechendes ungarisches Sprichwort (97.400 mal bei Google referenziert).

In unregelmäßigen Abständen prasseln Katastrophen auf uns herein und nehmen uns Aktionsradius weg. Böse Mitspieler können sogar bestimmte Ärgerkarten auslegen und damit ebenfalls unseren Aktionsradius und unsere Spielfreude dezimieren. Ist das nötig? Wäre es spiel-psychologisch nicht schöner, wenn sporadisch mehr Freiheiten dazukämen, anstatt dass sie uns ständig weggenommen werden?

Beim Design der Spieldetails haben sich die Autoren sehr viel Mühe gegeben. Das Spiel ist sehr gut ausbalanciert. Die 90 Aktivitätskarten der Basisversion und die 18 Karten für die Erweiterung verdienen von der Stimmigkeit und Ausgewogenheit höchstes Lob. Doch Stimmigkeit ist nicht alles. Die Karten und die Spielmechnismen balancieren den Spielfluß auf das Tempo hinkender Schnecken herab. Schade! Ganz sicher hätten die Autoren bei ihrer Erfinder-Kompetenz, die in vielen Details zum Ausdruck kommt, dem Spiel etwas mehr Gas geben können. Sie haben offensichtlich einfach nicht daran gedacht.

WPG-Wertung: Aaron: 6 (Probe-Note, er würde es noch einmal ausprobieren), Günther: 6 (ebenfalls zunächst nur eine „pro forma“ Note), Walter: 4 (zäh, Ärger ist die einzige Interaktion).

Bevor wir das Spiel am Westpark noch einmal spielen, wird Aaron die inneren Abhängigkeiten der 90 Aktivitätskarten genau analysieren und ermitteln, welche Karten-Kombination eine „Maschine“ bilden, sozusagen ein Perpetuum Mobile, das mehr Ressourcen generiert als es verbraucht. Wenn wir das Spiel am Westpark noch einmal spielen würden, hätte Aaron dieses sein Vorhaben garantiert nicht ausgeführt, sondern wir würden alle wieder mit dem gleichen Blinde-Kuh-Wissen den Tournayschen Knoten zu lösen versuchen. Oder nicht.

2. “Der letzte Wille”

Der letzte Wille

Für Walter „klangt schon der Titel ganz gut“. Die ständigen Stadt-Land-Fluß-Titel von „Abilene“ über „Bombay“ bis nach „Waterloo“ gehen ihm allmählich auf den Keks. Aaron meinte dieses Gut-Klingen allerdings mit einem gewissen Alter begründen zu können. Tatsächlich: Der Onkel ist gestorben. Er hat in seinem Leben unglaublichen Reichtum anhäufen können und – weil das letzte Hemd keine Taschen hat – alles zurücklassen müssen. Welcher seiner Neffen am schnellsten einen Bruchteil der Erbschaft durchgebracht hat, bekommt als Alleinerbe den gesamten riesigen Rest. Diese Geschichte hat der tschechische Autor Vladimir Suchý seiner Spiele-Erfindung thematisch untergelegt.

Wie bei „Tournay“ müssen wir in „Der letzte Wille“ Karten sammeln und auslegen. Doch welch ein Unterschied! Während wir in Tournay jede einzelne Drachme dreimal umdrehen müssen, bevor wir sie ausgeben, schwelgen wir hier in Geld und freuen uns über jede Gelegenheit, es zum Fenster rausschmeißen zu können. Spielpsychologisch eine viel angenehmere Situation.

Es gibt auch keinen Mitspieler, der uns unser Geld wegnimmt bzw. – was dem Spielziel eher entspricht – der uns welches gibt. Jeder ist alleine seines Glückes Schmied.

Wir kaufen Häuser zu hohen Preisen, lassen sie verkommen, sanieren sie für teueres Geld und verkaufen sie zu einem Schrottpreis weiter. Wir stellen Gesinde ein und legen uns Haus- und Hoftiere zu, nur damit die Renovierungskosten steigen. Wir leisten uns Vergnügungsfahren, Galadinners und Galavorstellungen, mit und ohne Edelanhang, die Hauptsache ist, dass wir unser Geld unter die Leute bringen.

All diese möglichen Aktionen werden ähnlich wie in „Tournay“ als Karten angeboten, die wir uns zulegen. Auch diese Karten sind sehr gut ausbalanciert und wir müssen wirksame Kombinationen herausfinden, die uns zum Sieg bringen. Doch spielt hier der Zufall nur eine sehr geringe Rolle: der größte Teil der Karten liegt offen aus; wir müssen nur schneller zugreifen als unsere Mitspieler.

Dazu spielt natürlich die Zugreihenfolge eine wichtige Rolle. Diese Rolle wird mehr oder weniger versteigert. Wir können wählen, ob wir früh am Zug sein wollen und dafür nur eine beschränkte Anzahl Karten ziehen und nur eine begrenzte Anzahl von Geld-Rauswerf-Aktionen durchführen dürfen. Oder ob wir als Letzter zusehen, was für uns übrig bleibt, uns dafür aber einen größeren Aktionsradius einhandeln.

Im Letzten-Willen krebsen wir natürlich nicht mühsam von Karte zu Karte; ganz im Gegenteil, wir haben die Hand ständig Körbeweise voller Karten und müssen uns nur überlegen, welche davon wir auslegen, welche in der Hand behalten und welche unbenutzt zurückgeben.

Es stellt sich schnell heraus, dass sinnloses Geld-Ausgeben gar nicht so einfach ist. Und manchmal sind die Mitspieler darin einfach geschickter. Doch auch hier gilt die Spiel-Psychologie: es ist leichter zu verlieren, wenn man noch alle seine Bauernhöfe und Herrenhäuser in der Auslage hat, als wenn man von den regelmäßigen Normannenstürmen ständig um sein letztes Hab und Gut gebracht wird.

WPG-Wertung: Aaron: 7 (Thema sehr gut umgesetzt) , Günther: 7, Walter: 7.

Wir wünschen allen Freunden, Lesern, Kritikern und Kommentatoren ein blühendes Weihnachtsfest und ein spielreiches Neues Jahr.