14.06.2017: Nah und Fern

Aus verschiedenen Gründen bekamen wir in den ersten Monaten dieses Jahres oft nur mit Mühe auf die drei Teilnehmer als Minimum für unsere Spielabende. Jetzt, für diesen Mittwoch, schnellte die Teilnehmerzahl sprunghaft auf das Doppelte hoch. Aaron und Günther sind wieder regelmäßig dabei, Moritz wollte seinen zehnjährigen Sohn Milo mitbringen, und auch Horst hatte mal wieder Lust zu einer Auseinandersetzung am Westpark.

Sex war Horst zuviel und er zog seine Teilnahme wieder zurück. Aaron bekam kurzfristig ein Rentnerdate eingeschoben, so dass er erst zwei Stunden später eintreffen konnte, da waren es nur noch vier.

1. “Near and Far”

„Near und Far“: Moritz baut auf, Milo stärkt sich

Das neueste Mitglied der Spielefamilie „Ab und An“, „Drunter und Drüber“ bzw. „Above and Below“. „Near“ ist eine Stadt, mit mehreren Etablissements, wo wir Geld, Brote, Potenzkarten und Weggefährten erwerben, „Far“ ist das Land, in das wir mit unseren Weggefährten ausziehen, Glückskarten finden, Abenteuer bestehen, Wertgegenstände ausgraben und unsere Tipis hinterlassen. Der Spielablauf besteht in einem ständigen Pendeln zwischen Stadt (zum Aufrüsten und Erholen) und Land (zum Siegpunkte machen).

Siegpunkte bringen unsere Tipis, besonders wenn damit vordefinierte Endpunkte belegt oder sogar verbunden werden. Das sind aber nur marginale Werte gegenüber den viel üppigeren Siegpunkten für Weggefährten, Potenz- und Glückskarten, sowie einer ganze Latte von Besitztum. In der Endabrechnung werden zehn Kategorien aufgezählt, die alle in Siegpunkte einfließen.

Die Strecke, die wir im Far-Land jeweils zurücklegen dürfen, ergibt sich aus den Schubkraft unserer Weggefährten. Die Schubkraft bewirkt aber auch noch andere Effekte: Wir brauchen sie zum Tipi bauen, und sie hilft uns, die Augenzahlen unserer Kampfwürfel zu erhöhen, mit denen wir die Ungeheuer auf der Strecke zur Strecke bringen, um damit Siegpunkte und weitere Wertgegenstände einzuheimsen.

Die richtigen Weggefährten sind das Allheilmittel zum Sieg. Fünf Stück von ihnen liegen offen zum Requirieren aus, man muss sie nur bezahlen können. Gerade am Anfang das richtige Geld in der Tasche zu haben – sehr, sehr mühsam, man bekommt es nur einzeln in kleinen Münzen – und am Zug zu sein, wenn gerade der geilste Weggefährte aufgedeckt wird, das ist mehr als die halbe Miete.

Fehler werden keine verziehen. Nicht gleich am Anfang mit den Gefährten zu Potte kommen, verpasst einem Spieler eine nicht mehr loszuwerdende rote Laterne. Eine Stunde hat dieser dann gebraucht, um seinen Fehlaufbau zu bewerkstelligen, eine weitere Stunde, um seinen Fehlaufbau zu verifizieren, und eine weitere Stunde, um mit seinem Fehlaufbau seinen Mitspielern hinterher zu trotteln. Günther hätte Walter, dem Obertrottler, gerne die letzte Stunde erspart, obwohl er selbst durchaus noch Chancen auf den Sieg hatte. Aber eine ganze Stunde lang nur noch zwischen Stadt und Land hin- und her zu pendeln, um die letzten Tipis zu verbauen, weil alles andere bereits abgegrast war, das war nicht nach seinem Gusto. Besonders da Aaron, der Später-Gekommene, schon eine ganze Stunde zugeschaut hatte. Aber Moritz und Milo hatten beide noch Lust, das Spiel in Ehren zu Ende zu bringen.

Lustvoll hatte Milo das erste Duell vom Zaun gebrochen. Natürlich gegen seinen Vater. In der Stadt kann man nämlich nicht beliebig in Banken oder Bäckereien einbrechen, sie müssen leer stehen. Sind sie von einem Mitspieler besetzt, der erst mit seinem nächsten Zug hier wieder herausgehen muss, und man will nicht warten, fordert man ihn zum Duell. Da Milo mit seinem Würfel lediglich Fünfer und Sechser würfelte, war es für ihn ein Kinderspiel, sich gegen seinen Vater in die Bank zu drängeln.

Milo, der fast interesselos Moritz’ Regelvortrag zugehört hatte und dabei den Eindruck hinterließ, man müsse ihm später beim Spielen unter die Arme greifen, war geistig aber höchstenfalls unterfordert. Planvoll hatte er die erste Handelsroute fertiggestellt, zu einem Zeitpunkt, wo noch keiner seiner Mitspieler überhaupt einen singulären Handelsposten belegt hatte.

Er war es dann auch, der mit 64 Siegpunkten den Sieg davontrug. Allerdings nur einen Punkt vor Günther und zwei Punkte vor Moritz. Es gab dann noch einen vierten Spieler, der aber nur die Hälfte dieser Siegpunkt-Summen anhäufen könnte. Gut gemacht Milo!

Was mir heute an ihm aber am allermeisten imponierte, war eine Replik zu seinem Vater, der sich über einen zu Recht oder zu Unrecht irrtümlichen Zug von Milo echauffierte: ein in absolut ruhigem ,sanften, überlegenen Ton vorgebrachtes: „Brüll noch lauter!“. So einen Ton möchte ich liebend gerne in aggressiven Diskussionen mit meiner Frau annehmen, wenn ich nur diese Selbstbeherrschung hätte …

WPG-Wertung: Aaron: 5 (es gibt Spiele, da macht es mehr Spaß zuzuschauen; N&F reizt mich überhaupt nicht), Günther: 5 (das Geschichtenbuch ist absolut überflüssig, es ist auch noch weniger in den Spielablauf eingebunden als bei „Above and Below“, lauter monotone Würfel-5 oder Würfel-7 Alternativen), Milo: 6 (fast 7, das Spiel enthält gute Ideen, das Herumlaufen ist etwas langweilig und das Einschwingen am Anfang dauert etwas zu lange), Moritz: 9 („ihr habe gar nicht verstanden, was für ein tolles Spiel das ist“), Walter: 5 (Interaktion ist Fehlanzeige, man steht sich höchstenfalls ungewollt im Wege herum. Die Menschenmassen in den überfüllten U-Bahnen zu den Rushhours sind – in der Regel – auch keine Interaktion).

2. “Saami”

Fünf Jahre lang hat Aaron sein „Saami“ auf Drängen des Verlages und dessen verschiedener Testgruppen aufgemotzt. Als er endlich ein komplettes Workerplacement-Spiel besammen hatte, kam die Devise: Abstrippen! Jetzt hat Aaron einen radikalen Schnitt gemacht, die Arbeitsplätze gnadenlos zusammengestrichen, und nur ein paar gleichgewichtige Rentierzüchter- und Holzhacker-Hütten übrig gelassen. Aber er hat mit der Teilung des Spielablaufes in zwei Phasen dem Spiel eine sehr überraschende, pfiffige Wendung eingebaut:

In der ersten Phase, „ruhiges Dorfleben“, bauen wir Hütten, schützen sie gegen Wind und Wetter und züchten Rentiere für den Winter. Ruhig, gemeinschaftlich, ohne Konkurrenz. In der zweiten Phase fallen die Wikinger ein, und wir müssen in Windeseile retten, was zu retten ist: Die Feinde bekämpfen, gegebenenfalls die Flucht ergreifen, aber auch nicht aus dem Auge verlieren, dass die Politiker am meisten absahnen, wenn das Fußvolk erfolgreich gekämpft hat. Damit die Windeseile auch Realität wird (, und damit hier ein langwieriges Abwarten, Lavieren, Spekulieren, Analysieren, Paralysieren vermieden wird), waltet über dieser Phase eine Sanduhr; wenn diese abgelaufen ist, sind unsere Rettungs- und Siegpunkt-Ergatterungsmaßnahmen vorbei. Sehr gut passend zu Thema und Spielablauf.

Aaron wollte uns diese neue Ablaufstruktur nur eine Runde lang antesten lassen. Doch nach einer Runde waren alle von den Abläufen gefesselt und gespannt, wie sich die Sache weiterentwickeln würde. Wir hängten noch eine Runde dran, und noch eine, und noch eine, und hatten das Spiel – gemäß der aktuell geplanten Rundenzahl – in einer halben Stunde vollständig zu Ende gespielt.

Es gab viel zu diskutieren. Noch ist nicht alles im Lot. Noch muss an der Balance für Hüttenbau und Ertrag, für Nutzen und Schaden, für Freund und Feind gedreht werden. Doch die Richtung ist sehr gut.

Nur Günther bedauerte, dass mit dieser Stopuhr die Möglichkeiten für Psychologie und Analyse verloren gegangen sind. Aber er kann ja die Stoppuhr weglassen, wenn er mit seinen Grübelgenossen spielt.

Noch keine WPG-Wertung für ein Spiel in der Entstehungsphase.