12.11.2008: Fin de siècle

Wenn ein Programmierer behauptet, er sei zu 95 % mit seinem Programm fertig, dann wird ein erfahrener Manager hellhörig: Gewöhnlich wird dann mindestens noch mal die gleiche Entwicklungszeit bis zur endgültigen Freigabe benötigt. Heute brachte Moritz erneut seine Eigenentwicklung “Das 20. Jahrhundert” zum Testen mit. Offiziell soll das Spiel bereits zu 99% fertig sein. Doch genauso wie in der Datenverarbeitung wurde auch hier die Skepsis der erfahrenen Tester nicht enttäuscht: Es wird noch einiges Wasser die Isar hinunterfließen, bis das Spiel zum Feintuning beim Verlag abgeliefert werden kann. Wenn Genie und Schweiß des Autors bis zum Jahresende noch die gewünschten Früchte hervorbringen können , dann kann das Spiel bis Essen-2009 auf den Markt kommen. Andernfalls muß sich die Spielerwelt noch ein weiteres Jahr gedulden.
1. “Das 20. Jahrhundert”
Als erstes trat wieder das bekannte Handtuch in Aktion; diesmal aber nicht, um den Rotwein von der grünen Tischdecke aufzusaugen, sondern um die riesige Plastikscheibe abzutrocknen, die Moritz als Schoner für sein provisorisches Spielbrett durch den Regen zum Westpark angeschleppt hat.
Nach kurzen Erläuterungen zu den Regeländerungen gegenüber der Vorversion konnten wir uns über das Spiel hermachen. Jeder bekommt zu Spielbeginn einen anderen “Aspekt” zugeordnet, der dem Spielverlauf a priori die gewollte Asymmetrie gibt. Der eine kommt leichter ans Geld, der andere hat immer ausreichend Aktionskarten in der Hand, der dritte kann effizienter Forschen und der vierte bewegt sich schneller durch das Weltgeschehen. Walter legte sich als Startspieler die Kultur zu, Hans die Industrie, Moritz die Politik und Günther die Religion.
In verschiedenen Regionen der Welt müssen wir uns um Fortschritte bemühen, wir müssen Länder beherrschen, Bauwerke errichten, Weltereignisse auslösen und Einfluß auf die Kriege der Epoche nehmen. Wir können keine anderen Kriege auslösen, als die in der Geschichte vorgegeben sind. Hier geht es auch nicht im Draufhauen und Totstechen, sondern um Mehrheitseinflüsse, um den Kriegsausgang zu entscheiden und daraus Kapital zu schlagen.
Doch der Krieg ist nicht das dominierende Element. Der Motor des Spiels sind zahlreiche, sehr verschiedene Karten, die ein jeder bei verschiedenen Aktionen in unterschiedlicher Anzahl vom verdeckten Stapel nachzieht. Je nach der Art, wie man die Karten einsetzt, bringen sie Geld, Bewegung, Fortschritt oder Besitz. Es gibt eine Menge zu überlegen, um aus den zulässigen Aktionen und aus der eigenen Kartenhand das Beste auszuwählen. In dieser Beziehung kommt das “20. Jahrhundert” schon nah an die Komplexität von “Agricola” heran.
Die Länder der Regionen haben naturgemäß unterschiedliche Wertigkeit; sie tragen auch unterschiedliche Anteile zum individuellen Entwicklungsfortschritt bei. In der ersten Spielversion waren es noch die billigen Länder, die hier die besten Erträge lieferten, in der jetzigen Version sind es die teuren Länder, die zur Erfüllung der Siegpunktbedingungen nahezu unerläßlich sind. Diese Neuigkeit war an Walter total vorbeigegangen. Wie vieles andere auch. So war er schnell hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. Moritz erbarmte sich und bot sich als Coach an. Moritz, der schwarze Falke als Samariter – welch eine göttliche Situation. Walter nahm das Angebot ohne Zögern an, um sich umso unbeschwerter in die geheimnisvollen Zusammenhänge des Spiel einweisen zu lassen.
Nach knapp zwei Stunden Spielzeit waren Günther und Hans in der Lage, die Spiel-Endebedingungen herbeizuführen. Doch jeder wollte dabei natürlich anschließend als Sieger daraus hervorgehen, und das war nicht so einfach zu kombinieren. So zog sich das Spiel noch über eine weitere gute Stunde hin, eine moderne Kanonade von Valmy, von weltgeschichtlicher Bedeutung aber ohne Entscheidung. Für diese Phase braucht das Spiel noch eine zündende Idee, glücklicherweise hat sie Moritz schon in der Schublade.
Durch mehr oder weniger (un)gewollte Ereigniskarten konnte sich Hans schließlich durchsetzen. Günther resignierte: “Hans hat gewonnen!” Moritz verteidigte den Spielmechanismus: “Und Du konntest es nicht verhindern!” Günther konterte: “Weil Du Kingmaker warst!” Oder war es Zufall?
Zur Kingmakerei wollen wir am Ende nochmals Wikipedia entscheiden lassen: “Kingmaker is a term originally applied to the activities of Richard Neville, 16th Earl of Warwick during the Wars of the Roses in England. The term has come to be applied more generally to a person or group that has great influence in a royal or political succession, without being a viable candidate. ” Wenn ich also meine Fähigkeiten zum Nutzen oder Schaden anderer so einsetze, daß jemand Sieger wird, ohne daß ich selbst davon profitiere, dann bin ich ein Kingmaker. Schaun wir mal, ob Moritz in seinem “20 Jahrhundert” diesen (sicherlich minimalen) Effekt noch eliminieren kann, oder ob er ihn spielerisch gewollt darinnen lassen wird.
2. “Bluff”
Nein, diesmal gab es keinen Absacker. Nach dem regulären Ende des “20. Jahrhunderts” und einer ausgiebigen Manöverkritik war es für Hans und Moritz höchstes Zeit, zur letzten U-Bahn abzudüsen.