“Das Volkstümliche ist von jeher der befruchtende Quell aller Kunst gewesen, solange als es – frei von aller Reflexion – in natürlich aufsteigendem Wachstum sich bis zum Kunstwerke erheben konnte. In der Gesellschaft, wie in der Kunst, haben wir nur vom Volke gezehrt, ohne daß wir es wußten. In weitester Entfernung vom Volke hielten wir die Frucht, von der wir lebten, für Manna, das uns Privilegierten und Auserlesenen Gottes, Reichen und Genies, ganz nach himmlischer Willkür aus der Luft herab in das Maul fiel. Als wir das Manna aber verpraßt hatten, sahen wir uns nun hungrig nach den Fruchtbäumen auf Erden um und raubten diesen nun, als Räuber von Gottes Gnaden, mit keckem, räuberischem Bewußtsein ihre Früchte, unbekümmert darum, ob wir sie gepflanzt oder gepflegt hatten; ja, wir hieben die Bäume selbst um – bis auf die Wurzeln, um zu sehen, ob nicht auch diese durch künstliche Zubereitung schmackhaft oder doch wenigstens verschlingbar gemacht werden könnten. So räudeten wir den ganzen schönen Naturwald des Volkes aus, daß wir mit ihm nun als nackte, hungerleidige Bettler dastehen.”?
Über diese schwierige und wohl auch schwülstige Passage aus einem Aufsatz von Richard Wagner hatten Moritz und Walter einige kontroverse Mails gewechselt. Künstler und Laie nahmen diametral entgegengesetzte Positionen ein. Die ausgetauschen Attribute reichten von „wunderschön“ bis „zutiefst widerlich“. Welch ein Glück, daß man sich per Emails noch keine Briefbomben zukommen lassen kann.
1. “A Brief History of the World”
Alles schon mal dagewesen. Die älteste bei Luding registrierte Version dieses Eroberungsspiel stammt von Gibsons Games aus dem Jahre 1991. Avalon Hill hat sich im Jahre 1993 daran versucht, Hasbro 2001 und jetzt zur Spiel 2009 in Essen die Ragnar Brothers aus England.
Wir spielen Völker, die sich kriegerisch über die Erde ausbreiten, Städte bauen, Festungen anlegen und Denkmäler errichten. Dann kommen die bösen Nachbarn, schlagen unsere Pöppel tot, zerstören die Städte, schleifen die Festungen und münzen unsere Denkmäler zu ihren eigenen Siegpunkten um. Der ganz normale Wahnsinn um das Aufkommen und den Untergang von Reichen ist das Thema des Spiels. (Das Wort „Zivilisation“ muß einem bei dem ununterbrochenen Totschlagen ja wohl im Halse stecken bleiben.)
Früher dauerte ein einziges Spiel Stunden, um nicht zu sagen Tage. Für manche Freaks ist das gerade lang genug; für die überwiegende Mehrheit der Viel- und Wenigspieler aber viel zu lang. Die Ragnar Brüder sind auf dem Weg zur Spielzeitverkürzung wieder ein paar Schritte vorwärts gekommen. Statt sieben gibt es nur noch sechs Epochen zu bestreiten. Wie üblich setzt sich der Stärkere mit Hilfe besserer Würfelwürfe durch. Der Angreifer bekommt dabei zwei Würfel in die Hand, der Verteidiger nur einen. Bei Gleichheit gewinnt der Verteidiger. Immerhin hat er damit noch eine Überlebenschance von 42%. Doch sollte der Angreifer verlieren, darf er seinen Angriff unverzüglich wiederholen und bekommt dazu noch einen Würfelpunkt gutgeschrieben. Jetzt sind die Chancen des Verteidigers gleich auf 25% gesunken. Und so geht es weiter.
Gewinnt allerdings der Angreifer, so bekommt er die Differenz der Würfelergebnisse als Overkill-Masse angerechnet und kann damit weitere Nachbarregionen ohne Würfelrisiko kampflos erobern. So lange der Overkill reicht. Mit einem einzigen guten Wurf hat sich ein neues Volk etabliert und liefert massig Siegpunkte, mit ein paar schlechten Aaronswürfen kommt man über sein Waterloo nicht hinaus.
Woraus besteht „gutes“ Spiel? Erstens, jeweils das richtige Volk auswählen. Allerdings hat hier nur der Spieler auf dem aktuell letzten Platz die freie Auswahl. Diese Auswahl nimmt sequentiell ab; der bisher Führende kriegt am Ende die letzte Völkerkarte ohne Einspruchsmöglichkeit zugeschustert. Da hätte er halt in den vorhergehenden Runden nicht so eifrig punkten sollen. Das ist ein ganz wichtiges Kriterium für ein erfolgreiches taktische Vorgehen!
Als Ausgleich darf der Führende als erster unter den Sonderprivilegien wählen. Sie alle bringen Vorteile im Vernichtungskampf gegen die Nachbarn. Hier die richtige Auswahl zu treffen, ist die zweite Herausforderung für den Sieg. Allerdings erscheint mir bei der optimalen Auswahl unter sporadischen Hilfsvölkern oder archimedischen Festungsminen auch kein größerer Bedarf an IQ zu bestehen.
Die dritte taktische Großtat besteht im Zugriff auf Sonderpunkte. Hier darf wieder der Startspieler als erster zugreifen. Unter zufällig zusammengestellten Kärtchen für 1 bis 4 Siegpunkte darf er sich das Maximum auf seine Seite ziehen. Wer in der Schule gelernt hat, mit 4 Äpfeln zu hantieren, kann hier keinen Fehlgriff tun. Für den Letzten bleibt in der Regel nur noch ein Apfel übrig.
Bleibt noch die vierte und letzte Herausforderung in der History: Gegen wenn soll man seine Militärpotenz richten? Der Ausgangspunkt eines jeden neuen Volkes ist vorgeschrieben; die Umgebungsfelder mit hohen Siegpunkt-Quoten für erfolgreiche Eroberungen sind leicht abzulesen, die Verteidigungskraft der alteingesessenen Bevölkerung auch, nur der Würfelkampf ist nicht immer vorhersagbar und erfordert Analyse, Kompetenz und Ausdauer.
Die Siegpunktvergabe steigert sich quadratisch. Mindestens. Die Völker der ersten Epoche bestehen nur aus 2 – 3 Kriegern. Blitzschnell haben sie sich auf die 2 – 3 möglichen Regionen verteilt und die paar lumpigen Siegpunkte eingeheimst. In den letzten Epochen kann ein Volk schon mal 15 Krieger auf die Beine stellen. Da auch die Siegpunktquoten für eroberten Regionen erheblich ansteigen, kann ein begabtes Kriegervolk beim Kampfwürfeln allein in der letzten Runde die Hälfte der möglichen Siegpunkte erringen.
Hierbei ist die Spielbalance durchaus problematisch. In den letzten Epochen gibt es Völker, deren Anfangspotential ein Mehrfaches der anderen Völker einer Epoche beträgt. Wer hier das Recht der ersten Wahl hat, kann seinen Mitspieler auf und davon ziehen. Natürlich hatte bei uns Moritz hier das glückliche Händchen. Bis zur vorletzten Runde hatte er sich taktisch ganz geschickt im Hintergrund gehalten, dann bekam er die Mongolen in die Hände und als deren Horden ausgestürmt hatten, hatte er die ganze Welt vom Reich der Mitte bis zum Mittelmehr unter seine Kontrolle gebracht. Schon vor seinem letzten Zug hatte er gewonnen.
Aaron konnte sich dagegen mit seinen Mayas und Inkas gerade noch ein zurückgezogenes Plätzchen an der Sonne in den Anden sichern. Seinen Vorwurf des „Gespielt-Werdens“ konterte Moritz mit der Behauptung, ein gewisser Bruce Monnin habe in den letzten History-of-the-World-Weltmeisterschaften jedesmal gewonnen; ein eindeutiger Beweis für die Intelligenz-Anforderungen des Spiels. Walter konnte darauf nur antworten: „Das glaube ich nicht!“ Es kann nicht sein, und das ist statistisch belegbar, daß ein Spiel, das derart wenige Entscheidungsfreiheiten läßt, das aber solch enormen Zufallseinflüssen bei der unterschiedlichen Ausstattung der Völker und vor allem beim Würfelkampf unterliegt, durch strategische Überlegenheit systematisch gewonnen werden kann. Eine Entscheidung über Wahr-oder-Falsch der Bruce-Monnin-Behauptung durch Nachforschen über Google haben wir uns erspart.
WPG-Wertung: Aaron: 5 (obwohl man gespielt wird), Moritz: 10 (liebt dieses Genre), Walter: 3 (erste Phase kontemplativ, zweite Phase promiskuitiv, dritte Phase mongoloid).
2. “Opera”
Ein Spiel um die klassische Musikszene in den Opernhäusern der alten Welt. Wir jonglieren mit Beethoven, Händel, Monteverdi, Mozart, Verdi und Wagner. (Nach Moritz hat hier zumindest Rossini gefehlt, und Beethoven hätte besser in ein Spiel namens „Symphonia“ ausgelagert werden sollen. Doch wir wollen den Streit um das Deutschtum in der Musik nicht nochmals aufgreifen.)
Geld regiert die Musikwelt. Wir legen das Budget für unsere Operationen fest und bezahlen damit die Angestellten unseres Musikbetriebes. Der Impressario läßt neue Werke der bekannten Künstler entstehen, der Architekt baut neue Opernhäuser in den Metropolen oder er erweitert bereits bestehende, die Signora verschafft unserem Ensemble Zugang in die Palazzi der Großkopferten, wodurch uns unverzüglich liquide Mittel zufließen, der Maestro zieht durch die Lande und erlaubt doppelte Eintrittspreise, der Critico verschiebt die Wertigkeit unserer Komponisten und der Esperto verschafft uns Extra-Siegpunkte für eine besonders gelungene Intendanz.
Bei der Startaufstellung stand Wagner ganz oben in der Rangliste. Seine Werke waren die teuersten der Welt. Wie im richtigen Leben? Keiner konnte sich den Eintritt leisten. Die Werke landeten unaufgeführt auf dem Müll. Schließlich war Bayreuth ja auch noch nicht erfunden.
Moritz wußte sogleich aus Erfahrung, daß in den privaten Herrenhäusern die Musik abgeht. Mit einer Traviata vor der Fürstin Gloria konnte er auf Anhieb seinen Etat nahezu verdoppeln. Aaron und Walter hatten sich mehr oder weniger zufällig zu einer symmetrischen Allianz in Wien zusammengefunden. Mit ihren Aktionen förderten sie unisono ihre gemeinsamen wirtschaftlichen Interesssen im Wiener Kunstleben, während sich Moritz ganz alleine in Venedig um eine Ankurbelung des Geschäfts abmühen mußte. Seine Solostellung drohte schon in Verbitterung auszuarten. Doch dann baute er mit einem Schlag die Mailänder Scala zu einem riesigen Musikpalast aus und fand auch den Maestro, der die Massen anzog und gewaltige Einnahmeströme in seine konkurrenzlosen Sääle lenkte.
Jetzt schwelgte er in liquiden Mitteln und in Optimierungsrechnungen für die richtigen Angestellten zu den richtigen Künstlern in den richtigen Openhäusern in den richtigen Weltstädten. Eine Schachuhr wäre über seinen paralysierenden Denkvorgängen nahezu geplatzt. So auch Walter. Unter Druck entschied er sich in seiner letzten Aktion für einen suboptimalen Zug … und wurde um Millimeterunterschiede nur Zweiter. Doch das ließ sein Künstlergewissen nicht ruhen. Richtig: wir hatten eine Randbedingung zu seinen Ungunsten übersehen. Am Ende konnten Venedig und Mailand den Tie-Break doch noch für sich entscheiden.
WPG-Wertung: Aaron: 7 (bekannte Spielelemente gut kombiniert), Moritz: 7 (es gibt kritische Effekte, deren Balance problematisch ist), Walter: 7(viele Herausforderungen).