31.10.2012: Terra Mystica

Moritz ist schlank geworden. Sehr schlank. Zehn Jahre lang haben wir am Westpark seine künstlerische Persönlichkeitsentfaltung in Richtung Pavarottis Amorphologie verfolgt, dann hat er eine radikale Wendung eingelegt und sein langanhaltendes Crescendo in ein abruptes Diminuendo verwandelt. Von Woche zu Woche ist er dabei jünger, dynamischer und strahlender geworden. Ein schöner Mann!

Coloretto als Caruso

Jetzt wurde seine Person auf einer Spielkarte verewigt. Im gerade gestarteten Kick-Starter-Kartenspiel „Nothing Personal“ trägt die Morris „Egg“ Caruso-Karte seinen Charakterkopf. Vorbild für das Konterfei war das Foto aus unserem Sesssion-Report zu „Coloretto“ (12.03.2003). Wahrlich brav getroffen. Doch was die Jugendlichkeit betrifft: Hi Moritz, vor neun Jahren sahst Du ja noch jugendlicher aus als heute mit Deiner Apollon-Figur!

1. “Terra Mystica”
Schon in seiner Anmeldungsmail hatte Günther ein 2-3 stündiges Marathonspiel angekündigt. Sein Vorschlag für ein halbstündiges Warming-Up wurde abgelehnt, wir waren alle schon heiß genug.
„Terra Mystica“ von Helge Ostertag und Jens Drögemüller im nagelneuen Spieleverlag „Feuerland“ herausgebracht, war das Highlight der diesjährigen Spielemesse in Essen. In allen Bestsellerlisten über all die Tage hinweg lag es auf Spitzenplätzen und wurde allgemein als das beste Spiel angesehen. Komplex ist es allemal. Aus 605 Einzelteilen besteht das Spielmaterial, 20 Seiten fasst das Regelheft, und ein mnemotechnisch perfekt durchkonstruiertes Spielbrett spiegelt die 101 möglichen Zugoptionen sehr gut wieder. Günther brauchte in einem wohlgesetzten Vortrag nur eine gute Stunde, um uns mit allem vertraut zu machen.

Auf einer hexagonalen Landschaft entwickeln wir unsere Völker, die diesmal die mystischen Bezeichnungen Zwerge, Hexen, Riesen oder Halblinge tragen, genauso gut aber mit den abstrakten Farbnamen Rot, Grün, Gelb und Blau bedient wären. Das Thema bleibt an der Oberfläche (wenn überhaupt), auch wenn eine ganze Seite Stimmungsstory dazu geschrieben ist.

Mit den Betriebsmitteln Arbeiter, Geld und Machtpunkten graben wir das Land um, bauen Wohnhäuser und wandeln Gebäude in Kontore, Tempel, Heiligtümer und Festungen um.

And the winner is … Günther

Jedes Besitztum liefert unterschiedliche Erträge, jede Kombination von Besitztum bringt unterschiedliche Prämien und Siegpunkte. Wir erweitern unsere Fähigkeiten zur Besiedelung, wir steigen in die Schifffahrt ein, und wir schicken unsere Priester zu den Zauberspalten, um bei Feuer, Wasser, Erde und Luft der größte zu sein.

„Der größte“ klingt nach Konkurrenz, doch in der Praxis ist davon wenig zu spüren. Wenn ich beim Feuer nicht ankomme, dann versuche ich es eben mit dem Wasser. Gegenüber den paar wenigen Zügen, die im Wettstreit miteinander gemacht werden, gibt es zu viele ertragreiche Optionen, die jeder unabhängig von den anderen abwickelt. Es gibt zu viele Rädchen zum Erfolg. Leider viel zu viele. Überall, woran man klopft, fließt die Manna hervor, überall warten Erträge, Siegpunkte und Privilegien. Für jede Prämie gibt es gleich ein oder zwei Handvoll unterschiedliche Vorschläge, aus denen man sich den Besten aussuchen darf. Alles gut geplant, alles bestens austariert, alles funktional stimmig, eine fantastische Arbeit. Doch wenn Helge und Jens der geniale Amadeus wären, würde ich wie Kaiser Franz kritisieren müssen: „Zu viele Noten!“

Noch dazu hoppelt jeder Spieler mehr oder weniger soliär durch das Serail. Jeder überlegt für sich alleine, wann und in welcher Reihenfolge er sich in welcher Richtung entwickeln soll oder ob er erst seine Fähigkeiten dazu steigern soll. Dazu kann er jede Menge Denkschmalz investieren. Und die Mitspieler dürfen seinen Denkprozess bis zur bitteren Neige mitverfolgen, sprich abwarten. Drei Stunden dauerte dies heute. Kein Unglück in einer harmonischen Runde, aber auch keine spielerische Offenbarung, wenn man vor lauter Rädchen das Uhrwerk nicht mehr sieht.
Wer von Natur aus dafür aber den richtigen Blick mitbekommen hat, und sich mit wachsender Begeisterung stundenlang an den ungezählten Entwicklungsmöglichkeiten erfreuen kann, der ist mit dem mystischen Land sehr gut bedient. Siehe seine positive Resonanz in Essen. Wenn die SdJ-Jury mal wieder einen Sonderpreis für „das komplexeste Spiel“ des Jahres zu vergeben hätte, wäre „Terra Mystica“ ein heißer Anwärter darauf. Doch „komplex“ und „spielerisch“ sind leider keine Synonyme.

WPG-Wertung: Aaron: 5 (total langweilig, ich fand’s einfach öd, ich hasse diese fitzeligen Friemeleien), Günther: 8 (komplexes – das ist hier positiv gemeint – Aufbauspiel), Moritz: 7 („mindestens“, obwohl er dieses Spielprinzip nicht besonders mag; glaubt, dass die spielerische Spannung bei näherem Kennenlernen steigt), Walter: 7 (für die vielen gut umgesetzten und ausbalancierten Mechanismen; bezweifelt einen hohen Wiederspielreiz.)

2. “Love Letter”
Das kleine Absacker-Kartenspiel hatte schon letzte Woche am Westpark für schadenfreudige Lacher gesorgt. In kurzen, mitleidslosen Body-Checks kicken sich die hochadeligen Spieler aus dem Rennen. Wer will, kann versuchen, mit einem ambitionösen Gedächtnis und mittels Deduktionsschlüssen innerhalb unbekannter oder zumindest äußerst vager Informationen, sich Vorteile zu verschaffen. Doch wenn der Prinz die Prinzessin auf dem Kicker hat, geht sie über den Jordan, egal wie intensiv zuvor ihre Techtelmechel mit Reitlehrern und Priestern waren.

Das ganze kann lustig sein, wenn man in lockerer Stimmung herangeht. Doch Schadenfreude kommt in der Regel nicht bei dem auf, der den Schaden erlitten hat. Wessen Kartenhand wurde wohl von Priester Aaron ausgespäht? Wer wurde als Bodyguard von Baron Walter liquidiert? Wer erboste sich über diese Spielzüge und verlautete: „Bei der nächsten Aggression gegen mich verlasse ich den Saal!“?

Keine Änderung der WPG-Wertung für ein fast 7-Punkte-Spiel.

Unser treuer Leser Willi hat uns, bzw. unserem Regelerklärer Günther hier eine – womöglich sogar böswillige – Regelwidrigkeit unterstellt. Zum Prinzen heißt es nämlich in den Regeln: Wenn der Prinz einen Mitspieler zwingt, seine Handkarte abzuwerfen: „Do not apply its effect.“ Bei der Prinzessin heißt es allerdings: Wenn Du die Prinzessin abwirst „no matter how and why“ bist Du draußen. Warum gibt es den expliziten “no-matter” Zusatz? Etwa für Spielverderber, die aus freien Stücken die Prinzessin abwerfen, um danach rechtzeitig zur vorletzten U-Bahn abzudüsen?
Bei Boardgamegeek wurde diese Frage ebenfalls diskutiert und von Herausgeber AEG (Alderac Entertainment Group) entschieden: “The Princess’ effect is always applied, even if discarded by ways of the Prince (Wizard in the Japanese version).“
www.boardgamegeek.com/thread/858554/prince-causing-princess-to-be-discard
Hallo Günther: Hiermit nehme ich den Anfangsverdacht einer möglichen Böswilligkeit in vollem Umfang zurück.

3. “Bluff”
Mit überzeugenden Würfeln Moritz konnte sein heutiges Kampfmotto: „Mich anzweifel, heißt lusen“ unterstreichen. Doch was blieb Aaron übrig, als er von Moritz bei 6 ausstehenden, noch verdeckten Würfeln mit der Vorgabe: “6 mal die Fünf” konfrontiert wurde.
Keine neue WPG-Wertung für ein Super-Spiel.

Ein Gedanke zu „31.10.2012: Terra Mystica“

  1. Ein bekannter Vielspieler ließ uns diese Tage zu Terra Mystica eine Erfahrung zukommen, die wir der Spielergemeinde nicht vorenthalten wollen:
    „Auch unsere erste Partie am vergangenen Wochenende war mehr oder weniger ein Blindflug zum Kennenlernen, der mich mit einer gewissen Skepsis zurückgelassen hat. Wir haben nun gestern Abend unsere zweite Partie absolviert und siehe da: Sie war äußerst ansprechend. Ich habe TERRA MYSTICA dabei als deutlich intuitiver empfunden als z.B. die ähnlich komplexen ORA ET LABORA oder TRAJAN, die mir im Übrigen beide sehr gut gefallen. Gebt den Feuerländern also bitte eine zweite Chance. Es lohnt sich.“
    Die zweite Westpark-Chance für Terra Mystica nimmt schon langsam Gestalt an.

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